Zu GeO Rundbrief 1/23, Seite 16 „Schwarmintelligenz gefragt“ – Rezension der Bücher von Hans Huchzermeyer

GeO-Mitglied Professor Dr. Dr. Hans Huchzermeyer, der sich nach einem Berufsleben als Leitender Chefarzt an der Mindener Klinik seiner Leidenschaft der Musikwissenschaft widmet, ruft im Rundbrief 1/23 zum Mitmachen auf für sein neues Projekt: Er möchte unser Wissen über das Schicksal der letzten Kantoren Königsbergs in den Jahren 1930-1945 und danach einsammeln und verarbeiten.

Hans Huchzermeyers 2013 erschienene Studien zur Kirchenmusik in Königsberg hat Dr. Klaus Weigelt, der Vorsitzende der Königsberger Stadtgemeinschaft, rezensiert. Wir freuen uns, dass wir seine Buchvorstellungen hier abdrucken dürfen.

Hans Huchzermeyer: Studien zur Musik- und Kulturgeschichte Berlins, Pommerns und Ostpreußens im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Minden/Westfalen 2013, 288 Seiten. Zahlreiche Abbildungen.

Hans Huchzermeyer: Zur Geschichte der evangelischen Kirchenmusik in Königsberg/Preußen (1800 – 1945). Minden/Westfalen 2013, 204 Seiten.

Der Autor ist eine erstaunliche Persönlichkeit. Nach einer lebenslangen beruflichen Karriere als Facharzt für innere Medizin und Gastroenterologie machte er sich nach seiner Pensionierung 2004 daran, das Erbe seines Vaters Helmut Huchzermeyer (1904 – 1984) weiterzuführen, der während seines Lebens als Altphilologe, Musikwissenschaftler und Komponist hervorgetreten war. Dazu beschaffte sich der Autor zusätzliche Quellen und führte zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen, von denen er auch viel Material übernehmen konnte.

Was Huchzermeyer in den beiden Bänden zusammengetragen hat, ist von hohem Wert für die ostdeutsche Musikgeschichte, zugleich aber auch zeitgeschichtlich bedeutsam, weil anschaulich und informativ Einblicke in politische und kulturelle Zusammenhänge des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben werden. Huchzermeyer versteht es, die gesellschaftliche Bedingtheit des Musiklebens herauszuarbeiten, sei es in der überwiegend höfischen Kultur des 19. Jahrhunderts oder in der Weimarer Republik und später in der nationalsozialistischen Diktatur des 20. Jahrhunderts.

Besonders hervorzuheben ist, dass Huchzermeyer wegweisend ist für die Aufdeckung der „Entjudung“ der evangelischen Kirchenmusik im Dritten Reich, für die seit 1932 der Sprecher der evangelischen Kirchenmusik Oskar Söhngen verantwortlich war, der nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1980-er Jahre weiter leitend für die Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche tätig war und dadurch seine Aktivitäten im Dritten Reich geschickt und „amtlich“ vernebeln konnte. Dieses Beispiel zeigt, wie lange Zeit man benötigte, um zu erkennen, dass sich der Kirchenkampf der 1930-er Jahre auch auf die Kirchenmusik erstreckte, und wie blauäugig man annahm, dass es im hehren Reich der Musik keine antisemitischen Aktionen geben könnte.

In den vier Kapiteln seines ersten Buches befasst sich der Autor zunächst mit dem aus Böhmen stammenden Musiker Franz Wilhelm Ressel (1811 – 1888) im Rahmen des Musik- und Theaterlebens in Berlin, wo Ressel als Violinist am Königstädtischen Theater, als Königlicher Kammermusiker und als Lehrer am Königlichen Institut für Kirchenmusik über ein halbes Jahrhundert wirkte und dabei die Entwicklung Berlins zur Millionenmetropole und den politischen Wandel vom preußischen Königtum über die Revolution von 1848/49 bis zum Deutschen Kaiserreich erlebte.

Im zweiten Kapitel erzählt Huchzermeyer anhand von acht Kurzbiografien die Geschichte der pommerschen Lehrer-, Organisten- und Komponistenfamilie Rohloff und ihren Beitrag zur Musikerziehung Preußens im 19.Jahrhundert. Er hebt hervor, dass Volksschullehrer und gymnasiale Fachlehrer als Erzieher, Organisten, Kantoren, Chor- und Orchesterleiter, Klavier- und Violinlehrer und sogar als Komponisten „Kulturträger“ waren und bedeutende Beiträge für eine volkstümliche Musikkultur erbracht haben. „Auch die Lehrerfamilie Rohloff brachte über ein Jahrhundert Musikerpersönlichkeiten hervor, die einen hohen Anteil an der Entwicklung der pommerschen und deutschen Musikgeschichte haben.“

Das Hauptkapitel ist Ernst Maschke (1867 – 1940) gewidmet, einem Kirchenmusiker jüdischer Herkunft in Königsberg/Preußen. Er war Organist an der Schlosskirche und an der Königin Luise-Gedächtniskirche, Leiter des Instituts für Kirchenmusik und Orgelrevisor in Ostpreußen. Maschke war eine der prägenden Persönlichkeiten des Königsberger Musiklebens, und er durchlebte von der wilhelminischen Zeit über die Weimarer Republik bis zur NS-Diktatur drei Epochen deutscher Geschichte. 1937 verlor er nach einem perfiden Kesseltreiben seine Ämter und bezog, da er nicht rentenversichert war, bis zu seinem Tod eine „Gnadenpension“.

Im abschließenden vierten Kapitel ergänzt Huchzermeyer den Blick auf Ernst Maschke mit dem Porträt einer jüdisch-christlichen Familie und zeichnet die Lebensläufe seines Vaters Abraham Maschke (1828 – 1917), seines Bruders Richard Maschke (1863 – 1926) und seines Neffen Kurt Latte (1891 – 1964). Diese Dokumentation wertet der Autor zu Recht als Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Juden Königsbergs und ganz generell der Juden.

Das zweite Buch des Autors setzt sich die Aufgabe, die Darstellung der Geschichte kirchenmusikalischer Ausbildungs- und Pflegestätten von 1800 bis 1945 als Teilgebiet der Königsberger Kirchenmusikgeschichte mit kritischen Stellungnahmen zu den dort tätigen Lehrern zu verbinden. Für das 19. Jahrhundert wird belegt, dass das 1824 gegründete Institut für Kirchenmusik entgegen allgemeiner Auffassung während des 19. Jahrhunderts nicht seine Aufgabe verlor, sondern bis zu seiner Schließung 1931 als Orgelschule existierte. Der bereits im ersten Buch ausführlich erwähnte Ernst Maschke war ab 1910 der letzte Institutsleiter. Huchzermeyer untersucht die Bedeutung dieser Einrichtung für die Kirchenmusik Ostpreußens im Vergleich mit anderen Ausbildungsstätten, vor allem den Kirchenmusikinstituten in Berlin und Breslau.

Einen weiteren Schwerpunkt legt der Autor auf das von Joseph Müller-Blattau 1924 gegründete Universitätsinstitut für Kirchen- und Schulmusik. Die Geschichte dieser Einrichtung wird zeitgeschichtlich differenzierter als bisher betrachtet: Huchzermeyer arbeitet kenntnisreich die Gleichschaltung der kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten in der NS-Zeit heraus.

Zusammenfassen ist festzustellen, dass die beiden von Huchzermeyer vorgelegten Bände zahlreiche und viele neue Informationen dokumentieren. Diese sind nicht nur für ein musikwissenschaftliches Fachpublikum, sondern auch für allgemein an geschichtlichen Entwicklungen in Ostdeutschland interessierte Leser sehr geeignet. Der erste Band enthält umfangreiche Literaturhinweise nach jedem Kapitel und ein Personenregister am Schluss, der zweite Band schließt mit einem Literatur- und einem Personenregister. Die Abbildungen und wiedergegebenen Dokumente veranschaulichen den Text vor allem des ersten Bandes.

Klaus Weigelt (KK)