von OKR Prof. D.Dr. Horst Echternach
Liebe Gemeinde!
Wir haben den Predigttext als Evangelium gehört – die Geschichte vom Seesturm und dem sinkenden Petrus. Sie ist das alte Thema dieser Fischerkirche hier in Nidden. Und es ist eine dramatische Geschichte, die, so könnte man meinen, gar nicht ausgelegt zu werden braucht, weil sie für sich selber spricht:
Ein kleines Boot, mitten auf dem Galiläischen Meer. Der Herr ist am Ufer zurückgeblieben – und die Jünger im Boot werden immer ängstlicher. Es ist Nacht, noch vor dem ersten Morgengrauen. Die See wird unruhiger. Wellen schlagen gegen das Boot. Es wird brenzlich – und die Angst ist menschlich und verständlich!
Aber dann kommt Jesus ihnen auf dieser dunklen, stürmischen See entgegen. Sie schreien vor Entsetzen, denn sie halten ihn zunächst für ein Gespenst. Schließlich erkennen sie ihn. Und dann folgt die Geschichte mit dem sinkenden und doch nicht versunkenen Petrus.
Es ist eine Wundergeschichte. Aber wir sollten sie nicht einfach als eine Begebenheit von damals bestaunen, sondern uns fragen, was sie uns heute hier in Nidden zu sagen hat.
Wir können uns dieses Gehen auf dem See nicht vorstellen. Aber hier kommt es auch gar nicht auf ein Mirakel an, das die Schwerkraft der Erde (die Naturgesetze) außer Kraft setzt – wobei nicht bestritten werden soll, dass es so passiert sein kann, wie Matthäus es beschreibt. Interessant für uns ist nicht, dass damals ein kleines Wunder geschehen ist, irgendwo in Palästina vor 1900 Jahren. Denn was hilft es uns schon, dass Jesus damals auf dem Wasser gehen konnte?
Für uns ist vielmehr wichtig: Es gibt eine übergreifende Regie des Himmels, einen Gott, der allmächtig ist, der nicht nur die Gesetze der Natur aufheben kann, vor dem sogar die Stürme der Zeit abprallen – der Nationalsozialismus ebenso wie die eben noch mächtige atheistische Heilsideologie des Marxismus mit der Vision vom Paradies einer klassenlosen Gesellschaft. Noch haben wir es im Ohr: „Völker, hört die Signale“ – und kein Volk hört mehr darauf.
Wichtig bei dieser übergreifenden Regie des Himmels ist, dass es einen allmächtigen Gott gibt, der sich in Jesus Christus jedem Menschen zuwendet, der sich an ihn hält – dem versinkenden Simon Petrus genauso wie jedem von uns, der seine ausgestreckte Hand ergreift.
Doch zurück zur Geschichte: In Vers 24 heißt es: „Und der Wind blies ihnen entgegen“.
Wer hier in Nidden aufgewachsen ist, der ist mit dem Wind aufgewachsen – und er hat auch gelernt, mit dem Wind zu leben. Die ganze Kurische Nehrung ist seit eh und je eine Wind-Bastion, an der sich die Winde brechen – und dabei auch den Sand der Wanderdünen in Bewegung setzen.
Wind bringt frische Luft – aber auch Gefahren! Hier auf dem Kurischen Haff wusste man – wahrscheinlich besser als jene Fischer damals auf dem Galiläischen Meer – mit Segel und Ruder geschickt umzugehen, um dann auch gute Fänge einzubringen.
Es sind keine weichlichen Menschen hier, die vor Wind und Wetter Angst hätten-wie ja auch schon das Sprichwort sagt „Wer den Wind scheut, lernt nie segeln“.- Wind gehört zu Nidden. Und dieser Wind ist allen, die hier lebten, – zusammen mit den gelbschimmernden Sanddünen, dem leuchtenden Blau des Himmels, der Heide, den Wäldern, dem weiten Blick über die Meere von Horizont zu Horizont – zu einem Stück Heimat geworden. Es ist Heimat, die bleibt – auch für die, die nicht mehr hier wohnen.
Dies meint nicht, dass jemand von uns nur mit Wehmut an die Vergangenheit denken sollte. Denn die Vergangenheit verklärt sich, als sei sie eine idyllisch-heile Zeit gewesen. In der angeblich „guten alten Zeit“ ging es oft sehr hart zu. Und vieles war gar nicht so „gut“ wie ich selbst es aus der Geschichte meines Urgroßvaters und meines Großvaters hier in Nidden weiß.
„Und der Wind blies“, um mit Vers 24 zu reden, den Menschen hier erheblich „entgegen“. Christen leben oft im Gegenwind. Gott bat uns weder hier in Nidden noch sonst wo auf der Erde ein Paradies versprochen. Vielmehr stellt er uns vor immer neue Herausforderungen und Aufgaben, mit denen wir fertig werden sollen.
Und dann – Vers 30 -wird der Wind zu einem Sturm, vor dem selbst Petrus so sehr er schrickt, dass er den Herrn aus dem Auge verliert. In seiner Angst kann er nur noch den Ruf ausstoßen: „Rette uns!“. Solche Stürme, bei denen es um Tod und Leben geht, gab es auch hier: Wir denken an jenen unerwarteten Orkan, am 15. Januar 1881, als 10 Fischer aus Nidden auf der Ostsee umkamen – und es blieben 6 Witwen und 23 Waisenkinder zu rück. Damals werden viele Tränen geflossen sein.
Viele von uns sind zu dieser Wiedereinweihungsfeier mit einer eigenen Biographie und Geschichte nach Nidden gekommen. Denn immerhin: An diesem Ort, hier, wo wir jetzt sind, ist viel Entscheidendes in unserem oder auch im Leben unserer Vorfahren geschehen. In diesem Gebäude hat es Tränen gegeben, aber auch viel Freude: Wir denken an den Jubel bei Trauungen, den Stolz der Konfirmanden und ihrer Eltern bei den Konfirmationsfeiern. Es gab hier viele Hoffnungen, Erwartungen, Wünsche.
Wenn diese Steine hier erzählen könnten!
Wir können die Zeit nicht festhalten – und auch die Menschen nicht. Wir kommen und gehen – und während unseres Lebens wandern wir. Im Grunde sind wir, wie es im Alten Testament heißt, ein „wanderndes Gottesvolk“ – immer auf die Zukunft zu, letzten Endes auf unsere Heimat bei Gott.
Die schweren Stürme unseres Jahrhunderts sind über die Nehrung und über Nidden hin weggefegt – die politischen Turbulenzen nach 1918, die nach 1933, und schließlich der größte Sturm 1945. Und es war wohl klug, dass viele Niddener am 12. Oktober 1944 den Ort verließen und sich auf den Weg nach Westen begaben. Man muss nicht jedem Orkan die Stirn bieten wollen!
Das Ende des 2. Weltkrieges und die nachfolgenden sozialistischen Planungen haben Nidden erheblich verändert. Vieles wurde hier neu gebaut, manches auch verbaut. Vieles Alte und Vertraute steht nicht mehr.
Und doch ist es schön, dass jetzt, nachdem die atheistisch-ideologische Bevormundung ab gestreift ist, mit der neuen Freiheit unter den Menschen hier auch ein neues Empfinden aufkommt:
Es wächst die Einsicht, dass diese einmalige Landschaft, wie es Wilhelm von Humboldt schon ähnlich empfunden hat, ein Stück der schönsten Schöpfung Gottes ist, die erhalten werden muss! – Und man entdeckt auch wieder, dass das Flair dieser Landschaft hier in dem kleinen Fischerdorf Nidden beachtliche kulturelle Leistungen hervorgebracht hat – in der Dichtung (Thomas Mann) und vor allem in der Malerei, in jener Künstlerkolonie, die sich um das Gasthaus Blode bildete. Hier liegt der Wurzelboden einer kulturellen Kreativität, die weit über Europa hinausreicht – und es wäre töricht, dieses Erbe nicht weiter zu pflegen.
Das Wort „Kultur“ hängt sprachgeschichtlich mit dem Wort „Kultus“ zusammen. Kultur zu schaffen, hat uns der Schöpfer aufgetragen. Kultur gründet auf dem Kultus, auf der Sinnmitte unseres Lebens, auf Gott.
Es ist gut, dass diese Kirche nun wieder Kirche ist. Eine Kirche ist kein Museum – und wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande! Sie ist vor allem „Haus Gottes“ und Gehäuse für die Menschen, in dem sie trotz aller Winde und Gefahren in Gottes Hand Geborgenheit finden. Es ist das Haus Gottes, wo das Evangelium verkündet, die Sakramente gespendet, die Fürbitten gesprochen und nun vor allem das Lob Gottes angestimmt wird!
Und nun noch einmal: Der sinkende Petrus! Petrus war Fischer und damit der geborene Patron für das Fischerdorf Nidden. Vom „sinkenden Petrus“ spricht nun auch wieder das Altarbild. Da das Original nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen zerstört wurde, ist es wieder sorgfältig im Stil der „Nazarener“, im romantischen Frömmigkeitsstil des 19. Jahrhunderts nachgemalt worden. Natürlich empfinden wir heute anders und die Künstler in unserer Zeit würden anders malen. Und doch ist es gut, heute wieder dieses Bild hier zu sehen. Denn es ist ein Bild des Trostes und der Zuversicht. Es hat – im damaligen Zeitgeschmack – unseren Vorfahren viel bedeutet. Und ich kann mir auch folgendes denken: Vielleicht war gerade dieses Motiv vom sinkenden Petrus ein wichtiger Trost für jene verwundeten Soldaten, die 1944/45 hier lagen, als die Kirche kurze Zeit Notlazarett war – und vielleicht ist auch mancher unter diesem Bild gestorben.
Der sinkende Petrus hier ist – weiß Gott – kein Apostelfürst, kein erster Papst, kein Stellvertreter Gottes auf Erden, sondern nichts anderes als ein hilfsbedürftiger Mensch.
Er steigt aus dem Boot. Er will glauben – und erschrickt vor den stürmischen Wogen doch so sehr, dass er Jesus Christus aus dem Blick verliert – nur einen Augenblick, und schon beginnt er zu sinken. Petrus ist nur ein Mensch – hilfsbedürftig wie jeder von uns. Natürlich sollte der Fischer Petrus die Gefahr der Wellen nicht ignorieren und auch sollen wir die Gefahren, in denen wir leben, keinesfalls aus dem Auge verlieren. Christlicher Glaube ist schließlich keine Vogel-Strauß-Politik! Aber über allen Gefahren steht der allmächtige Gott, Jesus Christus, der uns liebt und uns seine rettende Hand entgegenstreckt.
Einen letzten Blick sollten wir noch auf das Boot werfen: Das sitzen sie, die Jünger, ängstlich und kämpfen gegen den Sturm.
Ein Boot oder Schiff ist ein gutes Bild für die Gemeinde. Die Christen sind eine kleine Schar. Sie müssen zusammenhalten, um auf dem offenen Meer gegen den tosenden Sturm zu bestehen. Diese erste Jüngergemeinde in jenem Boot kannte noch keine Konfessionen. Da gab es noch keine evangelisch-lutherischen oder römisch-katholische Jünger. Gewiss waren auch die Jünger unterschiedliche Menschen, aber das Gemeinsame war ihnen wichtiger als das Trennende.
Wir denken heute – bei dieser Wiedereinweihung unserer evangelisch-lutherischen Kirche – an das hohepriesterliche Gebet, Job. 17, Vers 21, dass sich die Christen nämlich bemühen sollen, eins zu sein. Und dies ist der Grund dafür, dass wir in unserer Kirche auch unseren römisch-katholischen Mitchristen für ihre Gottesdienste gerne ein Gastrecht einräumen.
Dieser Gottesdienst ist in erster Linie ein Gottesdienst des Dankes, des Dankes an den Herrn, der über allen Stürmen der Zeit sein Volk und seine Kirche erhält! Und der Dank soll einmünden in den Lobpreis Gottes, wenn wir am Schluss den schönsten Choral der Christenheit anstimmen wollen, das Te Deum: Großer Gott wir loben dich! – Amen.