Ostpreußen zweidimensional

Barbara Ring, geboren 1961 in Nikolaiken, gehört zu der Generation der Ostpreußen, die in Polen geboren wurde und später nach Deutschland ausreiste. In ihrem Bericht beschreibt sie, wie Ostpreußen für ihre Mutter die deutsche Heimat bleibt, während es für sie selbst die polnische Heimat ist. Trotz über 40 Jahren in Deutschland zieht es sie mindestens einmal im Jahr zurück nach Masuren – besonders zur evangelischen Gemeinde in Sensburg, die sie jedes Mal herzlich empfängt.

von Barbara Ring

Liebe Leserin, lieber Leser des Geo-Rundbriefs,

mein Name ist Barbara Ring, geb. Sztemberg, und ich gehöre zu der Generation der Ostpreußen, die schon in Polen geboren und erst in Folge einer bewussten Entscheidung ihrer Eltern in späteren Jahren nach Deutschland „vertrieben“ worden ist. Meine Ausreise aus Polen liegt schon über 40 Jahre zurück, aber mein Herz schlägt immer für meine alte Heimat. Geboren bin ich 1961 in Nikolaiken, von wo aus meine Eltern: Sztemberg Aleksander und Rosemarie, geb. Groneberg, nach Sensburg umgezogen sind. Dort habe ich auch meine ersten Schritte im Glauben in der dortigen evangelischen Gemeinde gemacht. Religions- und später auch der Konfirmandenunterricht sowie die Kindergottesdienste haben in dem damals auch schon etwas historisch wirkenden alten Pfarrhaus stattgefunden. Im Ort wurde unsere Kirche oft nicht als „evangelisch“, sondern als „deutsch“ bezeichnet, weil die meisten der Gemeindemitglieder Deutsche gewesen sind. Diese haben sich dann nach dem Gottesdienst gerne miteinander auf Deutsch unterhalten. Schon damals ist es mir bewusst geworden, dass die ältere, noch zu deutschen Zeiten geborene Generation und wir, die einige Jahre nach dem Krieg in Polen zur Welt gekommen sind, zwar in der gleichen Welt leben, aber alleine durch die Sprache und die geänderten Bedingungen die gleichen Orte und Situationen unterschiedlich wahrnehmen. Da wo ich in meiner Erinnerung durch die Straßen gehe und die großen Schilder über den Geschäften in Polnisch sehe: „Masarnia“, „Piekarnia“, „Poczta“, haben die vor mir in Nikolaiken, Sensburg und in den anderen Orten Ostpreußens lebenden Menschen in ihrer Kindheit und Jugend: „Metzger“, „Bäckerei“ und „Postamt“ lesen können. Für meine Mutter bleibt Ostpreußen immer ihre Deutsche Heimat.

Die Konfirmanden vor der ev. Kirche in Sensburg /Mragowo 1974

Für mich ist Ostpreußen meine Polnische Heimat, in der ich als evangelische Deutsche manchmal merkwürdig angesehen wurde – einmal gab es eine leise Aufforderung des katholischen Pfarrers an meine Schulfreunde, mich in den katholischen Religionsunterricht mitzubringen, der wir nicht gefolgt sind. Aber ich wurde doch akzeptiert.

In Deutschland 1981 angekommen, musste ich feststellen, dass auch junge Bäume nicht verpflanzt werden sollten. Es ist mir nicht leichtgefallen, den Verlust der mir vertrauten Umgebung und der in Polen zurückgelassenen Freunde zu verarbeiten. Meinem Glauben an Gott verdanke ich, dass ich mich irgendwann auch in Deutschland heimisch fühlen konnte. Die Sehnsucht nach meiner alten Heimat hat mich aber nie verlassen, und das führt dazu, dass ich mich mindestens einmal im Jahr auf den Weg nach Masuren mache.

Dort angekommen, genieße ich es, dass ich mich in dieser wunderbaren Landschaft ohne Sprachprobleme frei bewegen kann. Und bei jedem Besuch in meiner Heimatstadt freue ich mich besonders auf die Begegnungen mit den Mitgliedern der evangelischen Gemeinde in Sensburg, die mich jedes Mal herzlich empfangen. Es ist schon Tradition, dass unsere Urlaubsreise in Masuren am Samstag beginnt, damit ich gleich am Sonntag den Gottesdienst besuchen kann. Und dieser ist (bestimmt nicht nur für mich) immer „Himmel auf Erden“, weil der aktuell tätige Pastor, Bartlomiej Polok, den Besuchern auf eine lebendige Art erfrischende geistige Nahrung verabreicht. Es freut mich zu sehen, dass in der Gemeinde die Gemeinschaft gelebt wird. Das „Kirchen Café“ nach dem Gottesdienst wird gerne besucht und bietet eine gute Möglichkeit zum gegenseitigen Kennenlernen und Austausch. Vor einem Jahr hat mein Konfirmandenjahrgang seine Goldene Konfirmation dort gefeiert. Zu dem Zeitpunkt wusste ich es noch nicht, dass wir dabei auf den von der GeO gespendeten Stühlen saßen. Vielen Dank dafür.

Chortreffen in Nikolaiken 2022. Barbara Ring 2.v.l.

In der Gemeinde gibt es eine aktive Chorgruppe, die von Danuta Mendroch geleitet wird. Bei einem meiner längeren Aufenthalte konnte ich einige Chorproben besuchen und danach an dem 75-jährigen Jubiläumstreffen der Chöre der Masurischen Diözese teilnehmen, welches am 16. Juni 2022 in Nikolaiken stattgefunden hat. Man hat den Teilnehmern des Treffens richtig angesehen, mit welcher Freude sie dabei gewesen sind und ihrem Glauben Ausdruck verliehen haben. Schade, dass ich den gewaltigen Gesang aller dort versammelten Ostpreußischen Chöre zum Abschluss des Gottesdienstes nicht aufs Papier bringen kann…

Pfarrhaus der ev. Kirche in Mragowo /Sensburg

Am Pfingstmontag wird man von der Sensburger Gemeinde zu einer besonderen Andacht am Seeufer in Krummendorf (heute Krzywe) mit anschließendem Rühreiessen (über dem Lagerfeuer zubereitet) eingeladen. Jeder, der dieser Einladung in der Vergangenheit gefolgt ist, hat es nicht bereut und kommt immer wieder. In diesem Jahr ist das Wetter uns nicht besonders gut gesonnen gewesen (Pastor Polok hat deswegen persönlich seinen schützenden Regenschirm über dem Topf gehalten), aber der fröhlichen Gemeinschaft hat es nicht geschadet.

Mittlerweile wird nach den Gottesdiensten in Sensburg kaum Deutsch gesprochen (abgesehen von den deutschen Touristen, die kein Polnisch sprechen). Viele der älteren Gemeindemitglieder sind bereits gestorben, viele haben sich in den vergangenen Jahren für die Ausreise nach Deutschland entschieden. Auch von meinem Konfirmandenjahrgang leben die meisten im Westen.
Die evangelische Gemeinde lebt trotz dieser Migrationsverluste weiter, hält stark zusammen und bietet jedem, der sie aufsucht, einen Ort, an dem die Seele ihre Ruhe finden kann, und die Wirkung des Heiligen Geistes spürbar ist. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in Sensburg und lade Sie dazu gerne ein.

Tradition: Zu Pfingsten gehört das Rührei-Essen, auch im Nie-
selregen. 

Fotos: Barbara Ring