Humanitäre Hilfe im Rückblick

„30 bewegte Jahre“ - Bewegende Einblicke in die Welt der Nordostpreußen-Hilfe

30 bewegte Jahre“ – Bewegende Einblicke in die Welt der Nordostpreußen-Hilfe

Schwarmstedt. Der Zweite Weltkrieg brachte unter anderem zahlreiche Flüchtlinge aus Ostpreußen nach Schwarmstedt, während ihre frühere Heimat nach der deutschen Niederlage von Russen besetzt wurde und kein Deutscher mehr Zutritt hatte. Als es mit Beginn der Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erstmals wieder möglich war, Königsberg und Nordostpreußen zu bereisen, ergriffen der damalige Vorsitzende des Schwarmstedter Kirchenvorstands, Gerhard Schmakeit und sein Bruder Erich die Chance, ihre einstige Heimat wiederzusehen. Sie kehrten erschüttert zurück und gründeten den „Arbeitskreis Nordostpreußen-Hilfe“, aus dem 2002 die „Brücke nach Kaliningrad“ wurde. Von 1991 bis 2021 sorgten unzählige Helferinnen und Helfer dafür, dass den Menschen im „Oblast Kaliningrad“ in vielfältiger Weise geholfen wurde. Jetzt hat ein neuer Krieg diese Hilfe abrupt beendet, sind die Grenzen rund um das Kaliningrader Gebiet geschlossen. Doch die Jahre unermüdlicher Hilfe hat Emma Helia Sauerwein in dem Buch „30 bewegte Jahre“ zusammengefasst. Dabei gibt sie nicht nur einen chronologischen Rückblick auf die Entstehung und Wandlung der Partnerschaft vom „Arbeitskreis Nordostpreußen-Hilfe“ zur „Brücke nach Kaliningrad“ sondern lässt die Leser auch teilhaben an vielen Erlebnissen der zahlreichen Reisen und Hilfstransporte.

„„Die Brücke nach Kaliningrad“ ist ein Leuchtfeuer diakonischen Handelns in unserer Zeit. Dafür gebührt ihr unser aller tiefster Dank“, schreibt der Vorsitzende der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Schwarmstedt, Jürgen Otterstätter, in seinem Geleitwort zum Buch „30 bewegte Jahre“. In diesem Buch hält Emma Helia Sauerwein Rückschau auf die Jahre 1991 – 2021 und erklärt in der Einführung: „Hilfe war in vierfacher Weise notwendig: physisch – medizinisch – psychisch – glaubensmäßig.“

Die Menschen, die vor längerer oder kürzerer Zeit in der Oblast Kaliningrad (früher Nordostpreußen) zwangsangesiedelt oder nach der Auflösung der UdSSR freiwillig dahin gekommen waren, fanden in der einstigen Kornkammer Deutschlands denkbar schlechte Lebensbedingungen vor, in denen nur fremde Hilfe das Überleben sichern und zur Selbsthilfe beitragen konnten. „All diese Hilfe konnte allerdings nur in einem ganz kleinen Maßstab und punktuell geleistet werden und war oft nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, heißt es in der Einführung. Dennoch sei sie notwendig gewesen und freudig angenommen worden. Doch bevor die Menschen in Nordostpreußen sich über zahlreiche Sach- und Geldspenden, Besuche, Austausch und geistliche Unterstützung freuen konnten, war eine Menge Vorarbeit notwendig. Das beschreibt Emma Helia Sauerwein in ihrem Buch und lässt dabei auch andere Reisende zu Wort kommen wie den damaligen WZ-Redakteur Torben Hildebrandt, den Gründer des Arbeitskreises, Gerhard Schmakeit, den ehemaligen Polizisten Günter Schoeneberg, den Landarzt Dr. Günter Sören Hildebrandt, Hasso Seidel, Werner Reckewerth und andere, die sich in den 30 Jahren mit dem Busreiseunternehmen Friedrich von Below, Privatautos und zahlreichen zur Verfügung gestellten Bussen und Lastwagen auf den Weg in die Oblast Kaliningrad gemacht und dabei nicht nur Freizeit und Urlaub geopfert, sondern oft auch noch „Geld mitgebracht“ haben. Auch wenn die Spendenbereitschaft von Privatpersonen, Vereinen und Institutionen groß war und auch durch Aktionen und Veranstaltungen wie Weihnachtstombola, Dia-Vortäge und Lesungen sowie die Trödelmärkte in Tietlingen und Schwarmstedt erhebliche finanzielle Mittel zusammen kamen, finanzierten alle Mitreisenden ihre Visa und Aufenthalte selbst.

Kleidung, Geschirr, Möbel, Bücher, Betten, aber auch Werkzeuge für eine Tischlerei, Molkereigeräte und die Einrichtung einer kompletten Schlachterei wurden nach Nordostpreußen gebracht. Auch Schule, Kindergarten und das Alten- und Pflegeheim Carl-Blum-Haus profitierten von den Spenden aus dem Aller-Leine-Tal, nicht nur in materieller Form sondern auch durch handwerkliche Leistungen. Allein 1992 wurden 600t Hilfsgüter in 34 Transporten nach Nordostpreußen gebracht. Zahllose weitere folgten. Dafür waren Genehmigungen und Deklarationen notwendig, oft stundenlanges Warten an den Grenzübergängen gehörte auch bei humanitären Transporten zur Normalität und nicht überall war man willkommen. Entschädigt wurden die HelferInnen aber meist vor Ort, wo ihnen die BewohnerInnen trotz Mangel und großer Armut immer mit Gastfreundschaft begegneten, für reich gedeckte Tische sorgten und zum Übernachten nicht selten das eigene Bett zur Verfügung stellten. Gemeinsam wurde gesungen, gefeiert und gelacht, Andachten gehalten. Freundschaften entstanden, Austausch und Gegenbesuche wurden trotz aller Schwierigkeiten initiiert. Davon erzählt das Buch ebenso wie von den Dörfern und Landschaften, die so wort- und bildreich beschrieben werden, dass sie vor dem geistigen Auge des Lesers wieder entstehen. Die jeweilige Doppelnennung der heutigen und früheren Ortsnamen trägt zur Orientierung von jung und alt bei.

Vor allem aber hinterlässt das Buch beim Leser eine tiefe Dankbarkeit gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen für das, was die ehrenamtlichen HelferInnen hier geleistet haben, zum anderen für den glücklichen Zufall in den Wohlstand der westlichen Welt hineingeboren worden zu sein. Luise und Erhard Wolfram heben in ihrem Nachwort noch einmal die großartige koordinierende Leistung von Emma Helia Sauerwein und ihrem immer größer werdenden Helferkreis hervor, ohne die diese außergewöhnliche Arbeit über einen so langen Zeitraum kaum möglich gewesen wäre und schließen mit den Worten: „Mein Mann und ich sind dankbar, dass wir diesen 30 jährigen Weg auf der „Brücke nach Kaliningrad“ fast durchgehend mit erfahren und hier wie dort begleiten durften.“

Da durch den nun schon ein Jahr andauernden grausamen Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine die Grenzen rund um das Kaliningrader Gebiet geschlossen sind und Hilfe schon in den letzten Jahren immer schwieriger wurde, auch weil Ansprechpartner vor Ort fehlten – die langjährige Vorsitzende des Probsteirates, Tatjana Ilyenko war 2014 verstorben, die Pastoren wechselten zuletzt sehr häufig – ist der Erlös aus dem Verkauf des Buches „30 bewegte Jahre“, das bei GNH, in der Lotto-Annahmestelle von Bostel sowie im Kaufhaus Heine erhältlich ist, für die Ukraine-Hilfe bestimmt.

Ruth Hildebrandt

Bildunterschrift: Die Koordinatorin der Hilfsorganisation und Autorin des Buches „30 bewegte Jahre“, Emma Helia Sauerwein, in ihrem „zweiten Zuhause“, dem Archiv der Samtgemeinde Schwarmstedt. Foto: Ruth Hildebrandt