Aus meiner Heimat in Selo Gorodok in der Ukraine zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, dann von Berlin durch die UdSSR nach Anadyr am Beringmeer

1.0 Herkunft und Schule

Geboren wurde ich am 1.9.1926 in Selo Gorodok in der Ukraine als 5. Kind unter neun Geschwistern. Meine beiden Brüder Jewgeni (1914) und Anatoli (1916) waren die ältes- ten. Dann folgte ich mit meinen Schwestern Olga (1920), Maria (1921), Nina (1929), Na- tascha (1936), Swetlana (1939) und Luba (1940).Mein Vater war Anton Romanowitsch Bakai. Er war am 29.1.1888 geboren worden; meine Mutter Xenia Jevmenjewna nur wenige Monate später am 20.4.. Mein Vater war schon Kriegsteilnehmer im 1. Weltkrieg gewesen und hatte nach der Oktoberrevolution auf Seiten der Weißen gestanden. Nach dem Sieg der Roten 1920 hat ihm das sein Leben nicht leicht gemacht. So hat er mir jedenfalls später erzählt und die älteren Verwandten haben das bestätigt. Er wurde einige Male einbestellt und verhört. Aber man hat ihn immer wieder laufen lassen. Sicher gab es dafür einige Gründe. Einer soll gewesen sein, dass er so viele Kinder hatte. Ein weiterer wäre gewesen, dass ihm die Bolschewisten außer seiner Mitgliedschaft in der regulären Armee kein Fehlverhalten hatten nachweisen können. Waffen hatte er keine versteckt – und man hat ihm auch keine untergeschoben, was man ja hätte tun können, hätte man ihn fertigmachen wollen.

Auf diesem Photo bin ich, Nadeschda Bakai, schon 19 Jahre alt. Es entstand am 24.8. 45 in Berlin, als ich bei der Kommandantur als Dolmetscherin eingesetzt war. Ich hatte damals gerade drei Jahre als Fremdarbeiterin als Dienstmädchen in drei deutschen Familien gearbeitet. Bilder aus meinen Kindertagen sind überhaupt nicht mehr vorhanden. Sie sind in den Kriegswirren in der Ukraine verloren gegangen.

In die Schule konnte ich erst 1935 in Gorodok eintreten. Das war wegen der großen Hungersnot. Ich
war damals schon neun und kam gleich in die 3. Klasse; das aber nicht nur wegen meines Alters. Ich konnte damals schon gut lesen und schreiben. In der Schule kam ich auch gut voran. In der vierten Klasse lernte ich bereits Deutsch. Die Sprache interessierte mich. Unsere Deutschlehrerin – eine Russin, denn Deutsche gab es bei uns in Gorodok nicht – legte bei mir eine gute Grundlage. So stöberte ich im 7. und 8. Schuljahr in unserer Schulbibliothek schon in der deutschen Literatur. Ich erinnere mich, dass ich durch ein Abbild in einem entsprechenden Buch auf die Lorelei von Heinrich Heine kam und mir den Text dann selbst mit dem Wörterbuch übersetzte. Als ich 1941 im 8. Schuljahr war, überraschte uns der Krieg und die unbeschwerte Zeit war zu Ende. Der Krieg kam bald in unser Dorf. Aber bevor ich das erzähle, muss ich noch berichten, wie ich mit unserer Familie die große
Hungersnot überlebte.

2.0 Die große Hungersnot

Mein Vater stammte aus einer Kosakenfamilie. Er war groß gewachsen, konnte gut singen und sehr lustig sein. Brüder hatte er mehrere. Einer davon hatte in Sankt Petersburg – zu meiner Zeit schon Leningrad – eine Nichte des Zaren, Lisa, geheiratet. Ihnen muss es in den 20er Jahren noch recht gut gegangen sein. Wir hatten Verbindung zu ihnen und sie besuchten uns in Selo Gorodok. Wir bekamen herrliche Geschenke; schöne Schuhe und Kleider, wovon man bei uns damals nur träumen konnte. Das habe ich in meinen frühesten Kindheitserinnerungen bewahrt. Anfang der dreißiger Jahre brach das alles ab. Mein Vater verlor die Arbeit als Buchhalter. Fast alle wurden arbeitslos. Nur meinem ältesten Bruder, Jewgeni, gelang es über tausend Kilometer im Osten im kasachischen Kusbas Arbeit in einem Kohlebergwerk zu finden. Wir anderen saßen in unserem kleinen Haus in Selo Gorodok und hatten fast nichts zu essen. Später erfuhr ich, dass Sonderkommandos des NKWD den Bauern alles wegnahmen. Ich sah damals natürlich nur, dass Vater keine Arbeit hatte und wir immer weniger zu essen bekamen.

Eines Tages kam ein Werber aus Moskau und sagte, er könne Leute mit nach Moskau nehmen, die bereit seien zu arbeiten. So ging mein Vater 1932 nach Moskau, um dort als Buchhalter zu arbeiten und die Familie wenigstens mit Geld grundzuversorgen. Das ge- lang nur notdürftig; denn in Selo Gorodok gab es auch gegen Geld nur wenig Essbares zu kaufen. 1933 schickte Vater Nachricht, dass noch einer aus der Familie nach Moskau kommen könne, aber eben nur einer. Die ganze Familie beratschlagte. Dann wurde entschieden. Anatoli sagte: ,,Mutter, du gehst! Wenn du hier bei uns bleibst, stirbst du mit uns. Wenn du nach Moskau gehst und lebst, gibt es für uns vielleicht auch eine Chance.“ So ging Mutter. Der Hunger wurde immer schlimmer. Wir hatten bald auch keine Gurken und Rüben mehr. Die letzte Rote Rübe war gegessen und Anatoli sagte: ,,Wir haben nichts mehr, wir müssen sterben.“ Am nächsten Morgen erwachte ich und vergaß meinen Hunger einen Augenblick. Ich sah meine Arme. ,,Schau mal Olga,“ rief ich, ,,wie schön dick meine Händchen sind!“ Und sie sah meine Ärmchen und weinte. Sie waren durch den Hunger geschwollen.

Vater und Mutter wussten aber um unsere Not. Anatoli hatte mit ihnen Briefkontakt gehalten. So ist das Wunder zu erklären, das damals im Herbst 1933 in unserer höchsten Not geschah. Plötzlich stand Vater da und brachte etwas Brot mit. Wir waren gerettet. Am nächsten Tag hat er uns alle nach Moskau mitgenommen. Dort lebten wir sehr beengt. Einen Raum teilte sich unsere ganze Familie neben dem Büro, wo Vater die Buchhaltung für eine Siedlungsgesellschaft machte. Zur Toilette mussten wir durch einen langen Gang auf die Straße. Das war besonders im Winter unangenehm. Da war es noch kälter als bei uns in der Ukraine. Das war eine sehr schwere Zeit in Moskau, aber sie rettete uns im- merhin dasLeben. Viele der Nachbarn, die wir in Gorodok zurückglassen hatten, starben.

Mein Vater Anton Romanowitsch Bakai. Er war Kosake. Das einzige Bild, das überhaupt noch von ihm bei mir existiert. 1888 geboren, war er gerade alt genug, um noch im 1. Weltkrieg zu kämpfen. Im 2. kam er beim „Volkssturm“ bei den Kämpfen in der Ukraine um. – In diesem Krieg ließ die Wehrmacht unser Haus abbrennen, wobei auch die Photos verloren gingen. Die- ses kann ich meinem Bericht nur deshalb beifügen, weil meine Schwester Luba, die jüngste von uns Geschwistern, mir eine Kopie aus lrkutsk geschickt hat. Wahrscheinlich hat es den Krieg bei meinem Bruder Jewgeni überstanden. Dessen Wohnung in Karaganda in Kasachstan erreichten die deutschen Truppen nicht. Das Bild entstand 1934 in Moskau, als wir wegen der ukrainischen Hungersnot dorthin geflüchtet waren.

Heute weiß ich, dass die bolschewistischen Behörden wollten, dass möglichst viele der Ukrainer Hungers sterben. Als wir 1935 zurückkehrten, erzählten uns die überlebenden, dass sie nach der Ernte nicht einmal auf die Roggen- und Weizenfelder durften, um die liegengebliebenen Ähren zu lesen. Das hätte einige vom Hungertode gerettet. Es wurde aber vom NKWD als Diebstahl am Gemeineigentum mit dem Tode durch erschießen bedroht. Das ist leider kein Scherz, sondern Teil der Tragödie in der Ukraine 1934.

Unser Weggang aus der Ukraine rettete uns sicher vor der Hungersnot. Beinahe hätte er dennoch fast für unseren Vater und dann auch für uns zu einer Katastrophe geführt. Im ersten Kapitel erwähnte ich, dass Vater im 1. Weltkrieg auf Seiten der Weißen gekämpft hatte und dass die Roten in Selo Gorodok im laufe der zwanziger Jahre aufgehört hatten, ihm deshalb Schwierigkeiten zu machen. Im Moskau von 1935 erhielt dieser Tatbestand noch einmal eine ganz neue Qualität. Bei einer Gelegenheit, deren Charakter ich nicht mehr genau erinnern kann, – es kann ein Trinkgelage gewesen sein – erhielt ein Haus- meister Kenntnis von dieser Vergangenheit meines Vaters. Er war chinesischer Herkunft, das weiß ich noch. Mein Vater musste fürchten, dass er von ihm verraten würde, bzw. er wurde sogar von ihm verraten. Genau weiß ich das nicht mehr. Eines aber wussten alle: dass es für meinen Vater lebensbedrohliche Konsequenzen gehabt hätte, wäre er des wegen in die Hände der bolschewistischen Behörden gefallen. Rettung versprach die Flucht. Wir mussten überstürzt abreisen. Glücklicher Weise kamen wir in ein Selo Gorodok, wo der Höhepunkt der Hungersnot schon vorbei war.

3.0 Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich

1935 kehrte unsere ganze Familie nach Selo Gorodok zurück. Meine anschließende Schulzeit verlief wie im ersten Kapitel beschrieben. Dass der Krieg am 22. Juni 1941 be- gann, erfuhren wir erst einige Tage später. Aktuelle Meldungen ließ Stalinzurückhalten. Sonst hätten wir erfahren, wie schnell Minsk und Kiew eingenommenwurden. Die Deut- schen waren dann auch ganz schnell bei uns und fuhren durch den Ort. Nichts schien sie aufzuhalten. Das muss Ende November/Anfang Dezember 1941 gewesen sein. Sie führten gleich eine deutsche Ordnung ein und bestimmten einen anderen Bürgermeister, der der Ortspolizei vorstand. Er gehörte zu denen, die früher durch die Bolschewisten enteig- net worden waren. Wahrscheinlich haben sie die Deutschen aus Lagern befreit oder sie kamen aus dem Ausland zurück.

MeineWege durchEurasien– Flucht- und Reisewege in meinen frühen Lebensjahren – durch die Sowjetunion ins Deutsche Reich

1nach Moskau:1934 – 35; 2nach Halleund Berlin:1942 – 45; 3nach Anadyrüber Wladiwostok: 1947 -1952; 4nach Baschkirien(Uta): 1952; 5nach Königsberg(Kaliningrad): 1952

Bis 1946 war Selo Gorodok in der Ukraine mein Lebensmittelpunkt. Seit 1952 leben wir in Königsberg/Kaliningrad.

Dieser Bürgermeister, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere, veranlasste im Frühjahr 1942, dass meine Schwester Maria nach Deutschland zur Arbeit gehen musste. Im Herbst 1942 sollte auch ich zur Zwangsarbeit. Der Polizist stand in unserer Wohnung und sagte: ,,Xenia, deine Tochter geht nach Deutschland.“ Sie weinte. Er fuhr fort: ,,Sei still! Sie geht nicht kaputt, sie bleibt lebendig.“ Meine Mutter sagte: ,,Ich will es nicht!“ Da drohte er: ,,Wenn sie nicht geht, wird es der ganzen Familie schlecht gehn.“ Da gab ich nach.

Mit mir mussten damals noch ungefähr 50 Personen aus Gorodok nach Deutschland.

Zu Fuß marschierten wir los, Jungen, Mädchen, Frauen und alte Männer. Ich hatte nur ein Bündel mit einer Jacke und einigen Büchern. Etwa hundert km waren wir unterwegs bis Winniza. Dort wurden wir in Viehwaggons verladen. Der Boden war mit Stroh ausgelegt. Darauf legten wir uns, wenn wir müde waren. Der Zug fuhr tagelang. Leider kann ich mich gar nicht erinnern, wie wir verpflegt wurden. Ich weiß auch überhaupt nicht mehr, wo wir die Grenze des Deutschen Reiches überschritten. Irgendwann hielten wir aber an, muss- ten raus und wurden eingesprüht. Dann konnten wir uns waschen. Einige dachten zu- nächst, sie bringen uns um. Wir waren dann natürlich froh, dass wir uns wirklich waschen konnten. Wir fuhren weiter. Als der Zug endgültig hielt, kamen wir in ein Barackenlager. Dort erhielt ich ein Stoffabzeichen mit der Aufschrift „Ost“. Das mussten wir ab jetzt an- stecken, wenn wir auf die Straße gingen. Bald erfuhr ich, dass wir in Halle in Sachsen waren.

4. Bei Familie von Egidy in Halle

Am nächsten Tag mussten wir uns vor den Baracken aufstellen. Eine Frau kam zu mir und sagte: ,,Die nehme ich.“ Wir fuhren nur einige Stationen mit der Straßenbahn. Ich glaube, das Haus war in der Gartenstraße 5. Es war dreistöckig und die Egidys wohnten im 2. Stock. Die Hausherrin war Frau Margot von Egidy. In der Familie gab es schon ein Dienstmädchen, das dort das letzte halbe Jahr eines Haushaltsjahres absolvierte. Danach wollte sie heiraten. Sie war sehr lieb zu mir. Ihr war ich zugeordnet. Sie sagte mir, was ich tun sollte, z.B. die Öfen mit Kohle versorgen und die Asche wegschaffen. Auch die beiden Kinder von Frau von Egidy, Klaus (9) und Barbara (über 2), musste ich hüten. Ihnen er- zählte ich Märchen, auch russische und manche von Andersen. Manchmal kamen die Großeltern der beiden Kinder zu Besuch. Sie unterhielten sich auch mit mir über die Sow- jetunion und die Ukraine, wo ich ja herkam. Manchmal erhielt ich von ihnen Geld, fünf oder zehn Reichsmark. Daran erinnere ich mich. Nicht erinnern kann ich mich, dass ich regelmäßig entlohnt worden bin. Wahrscheinlich nicht. Als nämlich nach drei Jahren mei- ne Zeit in Deutschland zuende war, hatte ich nichts. Ich arbeitete also nur für Kost und Logis.

Sonntags hatte ich in der Regel frei. Dann durfte ich in die Stadt und konnte mir alles anschauen. Ich ging auch in die Museen. Dafür nahm ich das Geld, das ich von den Großeltern der beiden Kinder erhalten hatte. Natürlich half mir dabei sehr, dass ich in der Schule etwas Deutsch gelernt hatte.

Der Hausherr, Herr von Egidy, war Landgerichtsrat. Auch er unterhielt sich mit mir und war sehr freundlich. Wir haben aber nie ein vertrauliches Wort miteinander gewechselt, das die Grenzen der Schicklichkeit überschritten hätte. Deshalb weiß ich bis heute nicht, was das schreckliche Misstrauen von Frau von Egidy verursacht hat. Jedenfalls war sie so eifersüchtig, wie ich in meiner Unschuld zunächst überhaupt nicht denken konnte. Sie ging mit mir zum Arzt und ließ mich untersuchen; bei einem Gynäkologen, der mich auf einen Stuhl setzte und prüfte, ob ich schwanger sei. Natürlich war ich es nicht.

5. Meine Schwester Marie kommt nach Halle

Bevor meine Zeit bei der Familie von Egidy zu Ende geht, muss ich noch eine Episode mit meiner Schwester Maria berichten, die in diese Zeit fällt. Noch in der Ukraine im Sommer 42 hatten wir in Deutschland die Adresse von Maria erfahren, die ja schon dort arbeitete. Sie war auch in Mitteldeutschland, sogar in der Nähe von Halle. Sie arbeitete in Grimma, einige km südöstlich von Leipzig. Von der Familie von Egidy konnte ich ihr jedenfalls schreiben. Wir vereinbarten einen Termin und trafen uns in Halle. Soweit ich mich erinnere, wurde Maria von ihrer Familie dorthin gebracht. Sie ermöglichte so unser Treffen.

Im Halleschen Adressbuch von 1943 (98. Ausgabe) sind alle drei Familien, bei denen ich als Dienstmädchen arbeitete, aufgeführt. Ich bilde hier die Auszüge von den Egidys und den Krü­ gers ab. Bei denen arbeitete ich bis zum Mai 45.

Ihr ging es in Grimma sehr gut. Sie gingen mit ihr ins Schwimmbad und in der Stadt spazieren. Damals konnte sie nicht ahnen, welche schwere Prüfung am Ende ihrer Zeit in Deutschland ihr noch bevorstand. Dass sie einen Freund hatte, sagte sie mir damals nicht.

6.0 Der Tod des Vaters

In dieser Zeit bei der Familie von Egidy kam auch eine sehr traurige Nachricht aus der Ukraine. In einem Brief teilte mir meine Mutter im April 43 mit, dass unser Vater bei Poltawa als Angehöriger der Volksarmee – das war so etwas Ähnliches wie der Volkssturm in Deutschland – gefallen sei. Wo genau, haben wir nie erfahren. Er hat deshalb auch kein Grab. Nun stand Mutter allein mit dem Teil der Familie da, der noch zu versorgen war. Was sie alles noch durchzustehen hatte, war noch ein weiter Weg.

7.0 Bei den Familien Frey und Krüger

Nach dem Besuch des Gynäkologen war das Verhältnis zu Frau von Egidy so gestört, dass ich ganz froh war, Ende 43 dort weggeschickt zu werden. Die Form hätte ich mir aber anders gewünscht. Eines Tages kam ein Polizist und nahm mich mit auf die Polizeiwache. Dort ließ er mich in einer Zelle übernachten. Am nächsten Morgen brachte er mich zu einer Familie Frey. Sie lebte in einem Haus in einem Vorort von Halle und hatte vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen. Entsprechend hatte ich viel Arbeit. Der Mann war Offizier in der Wehrmacht. Ihn sah ich nur einmal kurz im Sommer 44, als er auf Urlaub von der Ostfront kam. Mit den Kindern hatte ich ein gutes Verhältnis. Da ich jetzt schon ganz gut Deutsch sprach, konnte ich mit ihnen auch scherzen. Ich erzählte ihnen das Märchen und sie sagten zu mir, ich sei das Aschenputtel und ich jagte sie und sie mich.

Frau Frey hatte mich nicht so gern. Obwohl ich mir Mühe gab, hatte sie wohl den Eindruck, ich arbeite nicht genug. Einige Male schlug sie mich sogar. Das durfte sie nicht. Eine französische Fremdarbeiterin, die ich kennengelernt hatte, sagte mir das. Die Regu- larien des internationalen Roten Kreuzes verböten das.

Ende 44 kam ich deshalb von den Freys weg und war vor Weihnachten schon bei den Krügers – auch in einem Vorort von Halle. Die hatten ein Gasthaus mit Hotelbetrieb (Schadebräu in der Großen Ulrichstraße) und noch eine Landwirtschaft. Da gab es natür- lich auch viel Arbeit. Sie hatten regelmäßig Übernachtungsgäste. Ich musste die 14 Zimmer sauber machen, die Wäsche mit waschen, mangeln und bügeln und noch in der Küche helfen. Frau Krüger arbeitete mit. Bei den Krügers war auch ein französisches Dienstmädchen als Fremdarbeiterin. Sie arbeitete mehr im landwirtschaftlichen Teil mit Herrn Krüger. Sonntag konnten wir in die Stadt gehen. Da merkte ich, dass auch Mädchen aus Belgien und Jugoslawien da waren.

In der Krügerfamilie gab es zwei Kinder. lhnchen, eine 16-jährige, spielte oft Klavier im großen Gastzimmer. Außerdem machte sie gern Marzipan. Damit war sie gerade beschäftigt, als ich kurz vor Weihnachten zu den Krügers kam. Sie schmückte auch den Weihnachtsbaum. Ich verstand mich sehr gut mit ihr.

Damals spürte ich auch die Unruhe unter den Deutschen. Sie spürten zunehmend, dass es zu Ende ging. Öfter flogen feindliche Flugzeuge über Halle. Der Himmel war häufig schwarz davon. Glücklicherweise flogen sie immer weiter in Richtung Leipzig und Dresden. Herr Krüger fragte mich eines Tages, was ich denke. Was sollte ich denken? Dass die militärische Lage immer gefährlicher wurde, wusste er sicher besser als ich. Das zeigten nun täglich die verheerenden Bombenangriffe. Ich dachte nur an Selo Gorodok. Dorthin in meinen Heimatort wollte ich zurück.

8.0 Unseren russischen Befreiern fast in die Hände gefallen

Eines Tages in den ersten Maitagen waren die Amerikaner da. Darunter waren auch Ne- ger, die ich noch nicht gesehen hatte. Herr Krüger sagte zu uns: ,,Geht nicht hinaus. Es ist zu gefährlich.“ Ich konnte aber nicht so ruhig sitzen bleiben. Ich war so verrückt, rauszu- laufen und die Russen zu suchen. Auf einem Schienenstrang, der erst zwischen Häusern hindurch, dann mehr und mehr durch freies Feld führte, marschierte ich in einem Gefühl des Befreitseins in Richtung Osten, wo auch Selo Gorodok in der Ukraine liegen musste. An diese Augenblicke erinnere ich mich noch ganz genau. Als hätte ich sie bestellt, hielt plötzlich ein Zug mit Russen vor mir auf der Strecke. Es gab ein großes Hallo, als sie erkannten, dass ich kein einfaches deutsches Mädel war, sondern eigentlich eine der Ihren und noch dazu, dass ich nach Gorodok wollte. Sie gaben mir etwas zu trinken. Dann konnte ich ihnen gar nichts mehr erzählen. Der Offizier der Mannschaft trug vier Sterne und war demzufolge ein Kapitän. Er erklärte mir rundheraus, dass ich jetzt

Die KollegenderKommandanturPrenzlauerBerg“vorderKulissedesReichstagsim Sommer 1945. Für die Behörde arbeitete ich damals als Dolmetscherin. Ich hatte gerade drei Jahre als Dienstmädchen in Zwangsarbeit hinter mir und Deutsch ging mir ganz gut von den Lippen. Ah die Kollegen kann ich mich zwar gut erinnern, aber die Namen habe ich fast alle vergessen. Das Bild ist ja schon vor 58 Jahren entstanden. Aber folgende Personen kann ich noch nennen:

Ganz links steht Major Maximow. Der Fünfte in der stehenden Reihe ist Major Dimitrij Jerma­kow. Rechts außen steht Major Konoplöw, direkt vor ihm seine Frau. Die Tochter der beiden, Sonja, ist die junge Frau mit der weißen Bluse, dritte von links. Ich, damals noch Nadeschda Ba­kai, stehe ziemlich genau in der Mitte neben Major Jermakow. Die Dame mit dem weißen Kleid weiter rechts ist unsere Fotografin Mila Wasiljewa. Oberst Jelin fehlt auf diesem Bild.

Viele unserer russischen Landsleute ließen sich damals vor dieser denkwürdigen Kulisse ablichten. Heute ist dieses Bild darüber hinaus schon dokumentarisch. Dabei ist nicht so wesentlich, dass der Reichstagbeschädigt ist. Schließlich weiß fast jeder, dass er schon Ruine war, als Hitler im März 1933 die Macht übergeben wurde. Dokumentiert wird hier dennoch etwas Erstaunliches: Nach hunderten von Luftangriffen, die über die Stadt bis April 1945 hingingen, stand er immer noch – und die Kuppel war noch nicht ganz eingestürzt. Erst heute für mich in der Nachbetrachtung bemerkenswert: Keiner unserer russischen Panzer hatte die Reste heruntergeschossen.

damals jung und sah das anders. Mein Studium musste ich leider abbrechen.

Als wir 1952 nach Königsberg kamen, hieß es in Russland schon Kaliningrad. Damals waren wir noch zu viert. Erst 1955 erblickte mein jüngster Sohn Wladimir das Licht der Welt. Auf diesem Bild von 1960 ist er leicht erkennbar der Kleine in der Mitte. Ganz links Rima, der zweite ist Jewgeni