Anatolij Pawlowitsch Bachtin (1949-2023) – Nachruf von E. Scheld

2006; ein nachdenklicher Aantolij Bachtin auf dem Kriegsgräberfriedhof in Pillau /Baltisk
Bild: E. Scheld

Die Todesnachricht

Am 1. Januar 2024 berichtete die Onlineredaktion der Zeitung „Königsberger Express“ vom Tode des russischen Historikers, Archivars, Heimatforschers und Fotografen Anatolij Bachtin. Er sei am 28.11.24 verstorben, hieß es dort, der Sterbeort wurde nicht angegeben. Am 24.1.24 veröffentlichte dann die Ostpreußische Landsmannschaft einen Nachruf, der gleichzeitig auch in der Preußischen Allgemeinen Zeitung (PAZ) abgedruckt wurde. Andere Medien in Deutschland berichteten nicht über seinen Tod. In Wikipedia findet sich auch kein Eintrag über Anatolij Bachtin und doch hat er Großes geleistet. Über 40 Jahre seines Lebens widmete er sich dem Studium der Geschichte des nördlichen Ostpreußens, dem Auffinden und Systematisieren von Dokumenten und Archivalien. Die Landsmannschaft Ostpreußen hatte ihm in Anerkennung seiner hervorragenden dokumentarischen Arbeit über die Kirchen im nördlichen Ostpreußen den Ostpreußischen Kulturpreis für Publizistik des Jahres 2000 verliehen.

Erste Begegnung mit A. Bachtin

Kennengelernt habe ich Anatolij Bachtin im September 1995 anlässlich einer Studienfahrt hessischer Lehrer in das Königsberger Gebiet, den Kaliningradskaja Oblast. A. Bachtin fuhr mit uns nach Balga, zeigte uns die Ruinen der Ordensburg und erinnerte an die schweren Kämpfe vom Frühjahr 1945. Unzählige Flüchtlinge und die restlichen deutschen Truppen versuchten hier vom Festland aus zur Frischen Nehrung und von dort nach Pillau zu gelangen. Die Toten sind bis heute nicht „gezählt“. Menschliche Gebeine, geborstene Räder und Lederriemen konnten wir damals noch auf der Haffseite sehen. Bachtin verwies damals darauf, dass es die Aufgabe russischer Wissenschaftler und Institute, die sich der Geschichte verpflichtet fühlen, sei, in Balga – wie auch an anderen Orten im Oblast- noch
vorhandene Dokumente zu sammeln und Ausgrabungen vorzunehmen.

Gerade an dieser Aussage zeigte es sich, was Bachtin ausmachte: Er war besselt von der Aufgabe, Spuren deutscher Geschichte im Oblast zu finden und zu dokumentieren. Bewaffnet mit Kamera und seinem Notizblock bereiste er mit seinem Moped das gesamte Gebiet, um Kirchen, historische Bauten und Kulturdenkmäler für die Nachwelt festzuhalten. Viele Jahre lang erkundete er systematisch alle noch vorhandenen Kirchen im nördlichen Ostpreußen und sprach mit den Anwohnern über die Veränderungen an den Gebäuden. Damit kämpfte er gegen den Verfall, die Gleichgültigkeit und Gottlosigkeit. Er sah es als seine Aufgabe an, dass Deutsche und Russen wenigstens den Versuch machen müssten, den noch verbliebenen geringen Teil des kulturellen Erbes Ostpreußens zu retten.

Vergessene Kultur: Kirchen in Nord-Ostpreußen

Anfang 1990 wurde Dr. Gerhard Doliesen, damals wissenschaftliche Mitarbeiter an der Ostakademie in Lüneburg, auf die Arbeit des russischen Archivars Anatolij Bachtin aufmerksam, der die Kirchen im Königsberger Gebiet akribisch erfasst hatte. Dr. Gerhard Doliesen hatte die Idee, diese wichtigen Forschungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So entstand 1997 mit finanzieller Hilfe der öffentlichen Hand und privater Stiftungen, auf der Basis des Fotomaterials von Bachtin, die Wanderausstellung „Vergessene Kultur – Kirchen in Nord-Ostpreußen“. Ergänzend erschien dazu 1998 im renommierten Husum-Verlag der gleichlautende Bildband, der heute nur noch antiquarisch
erhältlich ist.

Ende der 90er Jahre gelang mit dieser Ausstellung ein entscheidender Schritt in die Öffentlichkeit, um zur Rettung der noch verbliebenen deutschen Kulturdenkmäler im nördlichen Ostpreußen aufzurufen. Ohne das Engagement von Anatolij Pawlowitsch Bachtin wären die Ausstellung und Initiativen zur Rettung von Kirchen nicht denkbar gewesen.

So ist es gelungen, einige Gebäude wieder aufzubauen bzw. zu restaurieren. Ich denke hier z. B. an den Königsberger Dom oder die Salzburger Kirche in Gumbinnen / Gussew. Der Königsberger Dom wurde seit 1992 von Igor Alexandrowitsch Odinzow in Kooperation mit dem Zentrum für Handwerk und Denkmalpflege in Fulda restauriert. Die Kirche der Salzburger Protestanten wurde seit 1995 wieder vollständig aufgebaut und dient seither den evangelisch-lutherischen und reformierten Russlanddeutschen der Region als Gemeindezentrum. Anatolij Bachtin hatte immer auch ein Interesse an der christlichen Kultur und freute sich, dass auch wieder Gottesdienste in den renovierten Gebäuden stattfinden konnten.

Letzte Begnung mit Anatolij Bachtin

Besuch der Kriegsgräberstätte Pillau-Nordmole

m Schuljahr 2005 /06 nahmen Schüler/innen meines Leistungskurses Politik & Wirtschaft des Dillenburger Gymnaisums mit einem Film zu Thema „Flucht und Vertreibung“ über den Weg der Königsberger Diakonissen vom Krankenhaus der Barmherzigkeit nach Altenberg an einem Schülerwettbewerb der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung teil. Dazu wurde auch eine Begegnungsfahrt in das Königsberger Gebiet durchgeführt, um den Film mit Aufnahmen aus dem jetzigen Gebietskrankenhaus zu komplettieren. Dort wurden die Jugendlichen am 2.5.2006 herzlich vom Direktor des Krankenhauses Herrn Prof. Konstantin Poljakow, Frau Dr. Elena Gordejewa, der
Oberschwester Natascha Androsowa und Natascha Jurowa (Barmherzige Schwester) begrüßt und hatten Gelegenheit, ihren Film allen Schwestern des Krankenhauses vorzuführen. Mit Studentinnen der Kantuniversität und ihrem Prof. Wladimir Gilmanow, der diese Fahrt ermuntert hatte, erörterten sie während der Reise Wege zur Aussöhnung zwischen den beiden Völkern und entschlossen sich, gemeinsam Blumen an Denkmälern niederzulegen. Am gleichen Abend konnte im Deutsch-Russischen Haus der preisgekrönte Film „Sophie Scholl – die letzten Tage“ von Marc Rothemund über den Widerstand im Dritten Reich öffentlich einem interessierten Publikum gezeigt werden.

Am 3.5.2006 fuhren wir mit unserem Guide Anatolij Bachtin in einem gemieteten Bus nach Pillau / Baltisk. Das war lange unsicher, da Baltisk der Sitz der Baltischen Flotte ist, und man eine besondere Genehmigung braucht, um die Stadt zu besuchen. A. Bachtin zeigte uns, was noch von der Innenstadt erhalten geblieben war, auch die ehemalige Reformierte Kirche, die 1992 der Orthodoxen Kirche übergeben wurde und den Leuchtturm am Hafen. Hier verwies er auf den russischen Nobelpreisträger Iosif Brodskij, der in den 60er Jahren mehrmals in Pillau war und auch ein Gedicht über den Leuchtturm geschrieben hatte. Mit Anatolij Bachtin und den russischen Studentinnen besuchten wir dann die Kriegsgräberstätte des Voksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Pillau / Baltisk. Auf dem
Friedhof ruhen über 8700 Kriegsopfer, darunter auch 204 Opfer des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“. Am Eingang des Friedhofs steht mahnend eine steinerne zweisprachige Informationstafel des Volksbundes mit den eindringlichen Worten des Friedensnobelpreisträgers Albert Schweizer „Die Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens.“

Besonders bewegend war die gemeinsame Niederlegung eines Blumengebindes, Kränze gab es nicht, für die Opfer des Krieges auf der Kriegsgräberstätte Pillau – Nordmole (Baltisk), westlich von Königsberg gelegen, der 2005 eingeweiht wurde. Als Dank für seine sachkundige Führung schenkte ich Bachtin noch ein Buch über Hermann von Salza, den Hochmeister des Deutschen Ordens, das er sich gewünscht hatte und worüber er sich sehr freute.

Als späterer Hauptarchivar des Staatsarchivs im Kaliningrader Gebiet sollte er zu einer unangefochtenen Autorität in Fragen zur Geschichte des Deutschen Ordens werden.

Niedergelegtes Blumengebinde auf dem Kriegsgräberfriedhof Pillau-Nord / Baltisk
Bild: E. Scheld
Anatolij Bachtin vor Stelen mit den Namen der Toten auf dem Kriegsgräberfriedhof in
Pillau-Nord / Baltisk
Bild. E. Scheld

Neuauflage der Ausstellung über Kirchen in Nord-Ostpreußen in Wetzlar

Der Hessentag 2012 in Wetzlar eröffnete die Gelegenheit, noch einmal Bilder der Ausstellung in der Königsberger Diakonie in Wetzlar zu zeigen sowie die partnerschaftliche Beziehungen zu dem Gebietskrankenhaus in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberger Mutterhaus der Barmherzigkeit zu dokumentieren. Allerdings war die Original-Ausstellung, die Ende der 90er Jahre mit großer Resonanz u. a. in Bonn, Lübeck, Dresden, Ellingen, Hamburg, Hannover, Leipzig ,Lüneburg und Rostock gezeigt worden war, nicht mehr verfügbar. Nach der Auflösung der Ost-Akademie war diese Ausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg eingelagert worden, befand sich aber nicht mehr in
einem präsentierfähigen Zustand.

Margarete Ziegler-Raschdorf, Landesbeauftragte der Hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, ermöglichte großzügigerweise einen Neudruck von Ausstellungstafeln, sprach das Grußwort zur Eröffnung und Dr. Gerhard Doliesen hielt den Eröffnungsvortrag, in dem er u. a. folgendes festhielt: 221 Kirchen gab es 1945 im Gebiet, dazu noch 33 in der Stadt Königsberg. Heute sind von den Kirchen auf dem Lande 93 völlig zerstört und von 65 nur noch Fragmente erhalten. Leider konnte Anatolij Bachtin nicht an dieser Ausstellung teilnehmen.

Nachwort

Und jetzt: Das alles wäre heute nicht mehr möglich. Die Zeitläufte sind nicht erst seit dem 24.2. 2022 anders geworden. Das Deutsch-Russische Haus wurde 2014 geschlossen, weil es der deutschen Vize-Konsuls in Kaliningrad, gewagt hatte, die russische Annexion der Krim zu kritisieren. Seit 2018 sind in Insterburg / Tschernjachowsk in der Ostsee-Exklave Kaliningrad Iskander-Raketen mit einer Reichweite von 500 Kilometern stationiert, die auch Berlin Warschau, Berlin oder Kopenhagen erreichen und mit Nuklearsprengköpfen ausgerüstet werden können. Zudem würden die Schüler heutzutage kaum mehr zu einer solchen Begegnungsfahrt freigestellt werden. Und mit wem könnten wir heute über Aussöhnungsprojekte in dem Oblast und in Russland diskutieren, ohne die Teilnehmer/innen zu gefährden?

Gerade in den heutigen Zeiten ist es nötig, nicht nur dem Archivar, sondern auch dem friedliebenden Anatolij Bachtin ein ehrendes Andenken zu bewahren.

Eckhard Scheld

5.3.24