Leseversion der Predigt vom 06.08.

Am 6.8.2023 fand der Ostpreußengottesdienst in St. Johannis Hamburg-Harburg statt. Lesen Sie die Predigt von Pastorin Kaiser-Reis bitte hier.

Ev. – Luth. Kirchengemeinde Harburg-Mitte
Gottesdienst mit GeO am 06.08.2023

Sonntag nach Trinitatis, Predigttext: 1. Könige 3, 5-15
Predigt: Pastorin Sabine Kaiser-Reis

Lieder:
EG 455 Morgenlicht leuchtet
Übertragung & Nachdichtung, Jürgen Henkys, geb. 1929 in Heiligenkreuz
EG 179, 1+2 Allein Gott in der Höh sei Ehr
Melodie & Text: Nikolaus Decius, seit 1530 Pfarrer in Ost- und Westpreußen
EG 294, 1+4 Nun saget Dank und lobt den Herren
Text: Ambrosius Lobwasser, Professor in Königsberg und 1585 dort gestorben
EG 560, 1+3+4 Wach auf, meins Herzens Schöne
Melodie: Johann Friedrich Reichhardt, geb. 1752 in Königsberg
EG 430 Gib Frieden Herr, gib Frieden
Übertragung & Nachdichtung, Jürgen Henkys, geb. 1929 in Heiligenkreuz
Ostpreußenlied

Du hast drei Wünsche frei!, liebe Leserinnen und Leser,
wer von uns würde dieses Angebot nicht gerne bekommen? Es ist, das gebe ich zu, ziemlich unwahrscheinlich. Mir ist die berühmte Fee noch nicht einmal im Traum begegnet. Aber trotzdem geht da natürlich gleich die Phantasie los.
Was würden Sie sich wünschen?

… Frieden für alle Welt, Heilung der Natur, alle Menschen werden satt, …

Überraschend ist, dass Gott in dieser Geschichte quasi in die Rolle der guten Fee schlüpft: Was immer du bittest, will ich dir geben! (Vers 5) Salomo ist der Glückliche, dem dieses Gottesgeschenk gemacht wird. Und er sagt zu ihm: „Meinem Vater David, hast du immer viel Gutes getan. Denn er war treu und gerecht, und sein Herz war stets auf dich gerichtet. Er hat sein ganzes Leben nach dir ausgerichtet, und du hast ihm die Treue gehalten.“ (Vers 6)
Ja, Gott hat David immer die Treue gehalten, aber umgekehrt? David war doch nicht immer treu und gerecht. Denken Sie nur an die Geschichte mit der verheirateten Frau, deren Mann er im Krieg an die vorderste Front und damit in den sicheren Tod schickte, damit er seinen Ehebruch umschiffen konnte. Pikanterweise ist diese Frau Salomos Mutter. Verständlich, dass der König auch im Traum nicht an diese Geschichte erinnern will.
Andererseits neigt der junge Mann zur Übertreibung: Es ist ein großes Volk, so groß, dass es weder geschätzt noch gezählt werden kann. (Vers 8), behauptet er großmundig. Vielleicht ist dies aber auch einfach nur ein Ausdruck seiner Überforderung. Dagegen hört sich das Eingeständnis: Dabei bin ich doch noch ein junger Mann und weiß nicht aus noch ein. (Vers 7), ganz ehrlich an. Er ist unsicher und wie gesagt sicher überfordert angesichts der großen Aufgabe. Aber er ist auch bereit Verantwortung zu übernehmen. Sein Wunsch ist klug und ernsthaft gewählt: Gib mir, deinem Knecht, ein hörendes Herz. Nur so kann ich dein Volk richten und zwischen Gut und Böse unterscheiden. Wie sonst könnte man Recht schaffen in deinem Volk. (Vers 9)

Ein hörendes Herz erbittet er sich. Und das meint nicht etwa, dass er Weltmeister im Hören auf die Gefühle anderer werden will. In der hebräischen Bibel wird das Herz nicht nur als Sitz der Gefühle eines Menschen aufgefasst. Vielmehr ist damit die Wesensmitte gemeint, die zentrale Instanz in unserem Innern, in der neben den Gefühlen auch das Denken und Wollen eines Menschen zu Hause ist. Der Ort, an dem Mensch und Gott sich begegnen; der Ort auch in dem das eigene Selbst mit der Außenwelt kommuniziert und erkennen, verstehen und urteilen möglich wird. Wenn es ein hörendes Herz ist, dann kreist es nicht um sich selbst. „Ich bewege das in meinem Herzen.“, heißt doch so viel wie, darüber muss ich erst mal nachdenken. Und „Das ist mir ein Herzensanliegen!“, meint: Das ist mir sehr wichtig. Darauf richte ich mein Wollen aus. Auch in unserer deutschen Sprache gibt es also Hinweise, dass das Herz symbolisch viel mehr ist als nur „gefühlig“.

Ich weiß nicht, wie kompliziert es vor 3.000 Jahren war, gut zu regieren. Aber Unsicherheit und Überforderung – das kenne ich aus unserer immer komplizierter werdenden Welt. Wir müssen Widersprüche aushalten, uns manches Mal eingestehen, dass unser gutes Leben eine Kehrseite hat, die andere Menschen und die Natur in Not bringt. Und, so schwer manchem die Einsicht fällt: Einfache Lösungen für komplexe Probleme gibt es nicht!
Natürlich besteht eine große Sehnsucht danach, die auch immer wieder lauthals und aggressiv eingefordert wird. Und dabei stehen bleibt.
Der Soziologe Hartmut Rosa meint, eine Stimme zu haben, die gehört wird, reicht nicht. Es braucht auch Ohren und „dieses hörende Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will.“ (Seite 53) Spannend! Der Soziologe des 21. Jahrhunderts nimmt die alte biblische Vorstellung vom hörenden Herzen auf. Denn, so stellt er in einem Interview über Kontrahenten in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fest, dass diese nicht auf einander hören wollen und sich schon gar nicht von den Worten der anderen verwandeln lassen.

Das hörende Herz, um das Salomo bittet, diese Gottesgabe wird ihm gewährt: Du hast weder um ein langes Leben gebeten noch um Reichtum oder den Tod deiner Feinde. Stattdessen hast du um Einsicht gebeten, um auf mich zu hören. Nur so kannst du gerechte Urteile fällen. Darum werde ich deine Bitte erfüllen: Hiermit gebe ich dir ein weises und verständiges Herz. (Verse 10-12)

Das Gute für uns ist: Wir brauchen gar keine gute Fee aus dem Märchenland. Ich kann Gott im Gebet um ein hörendes Herz bitten. Und auf ihn hören, auf die anderen hören und mich verwandeln lassen von seinem Wort und den Worten der anderen, wenn ich es denn will. Zuhören und verstehen wollen, nicht automatisch die eigene Sicht der Dinge hervorkramen; es aushalten, manchmal nicht zu begreifen, was der oder die andere meint. Fragen werden vielleicht nicht gleich beantwortet, nicht, weil mein Gegenüber das nicht will. Um zu verstehen muss das Gehörte im Herzen bewegt werden. Das braucht Zeit und eine Langsamkeit, die wir uns in dieser temporeichen Zeit meist nicht mehr nehmen.

Im Frühjahr habe ich ein Buch gelesen, „In den Häusern der anderen“* heißt es, und habe mich beim Lesen gewissermaßen auf die andere Seite begeben. Die junge polnische – in Berlin lebende – Autorin (Karolina Kuszyk) begibt sich auf Spurensuche nach der deutschen Vergangenheit in ihrer Heimat. Sie hatte festgestellt, dass Fragen nach der Zeit vor 1945 noch bei Angehörigen der dritten Generation, die in West- oder Nordpolen aufwuchsen, auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Sie schreibt: eine Erfahrung teilte ich (…) weder mit meinem Mann noch mit meinen Freunden, die in Warschau oder Lublin aufwuchsen: die Erfahrung, in einer nie ganz als eigen empfundenen Landschaft zu leben, die mit dem Gefühl verknüpft war, dass die Geschichte meiner Stadt und ihres Umlands ein schambehaftetes Geheimnis in sich barg. (Seite 12)
Eine Leitfrage ihrer Erkundung ist: Was bedeutet es für die Psyche eines Menschen, wenn er sich in den Hinterlassenschaften eines eben noch verfeindeten Volks ein neues Leben aufbauen muss? (vgl. Seite 14)

Die erste Generation blieb symbolisch auf gepackten Koffern sitzen, jederzeit bereit, dieses Land wieder zu verlassen, das bekannte Züge trug und zugleich fremd war. Schwer zu entziffern. Unheimlich. (vgl. Seite 278). Es fiel ihnen schwer, Vertrauen in die neue Landschaft zu gewinnen. Und doch sind einst deutsche Häuser seither durch den Willen ihrer aktuellen und früheren Besitzer zu sowas wie privaten diplomatischen Stellen geworden, wenn sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählten und einander zu hörten. Die einen bedrängt von den Gefühlen, die die Erinnerung an erlittenes Unrecht hervorrief, die anderen bedrängt von der Angst vor Rückkehr der früheren Besitzer und dem Schrecken der Enteignung. Vielleicht können einige von Ihnen auch so eine Geschichte erzählen oder haben davon gehört.
Die einst deutschen Häuser könnten so zu Orten werden, die der Vergebung dienen, wie ein Gesprächspartner der Autorin meint. (vgl. Seite 56)

Und ich bin überzeugt, dass hörende Herzen bei gelungenen Begegnungen ganz entscheidend sind. Ich höre und ich antworte. Eine Verbindung zwischen uns entsteht und ich kann auch auf das, was mich erfreut oder bedrängt reagieren. Ich kann offen sein für die Widersprüchlichkeiten in mir und zwischen uns und in der Welt. Ich lerne und gewinne Einsichten, nehme mir die Zeit nachzudenken, bilde mir ein Urteil, kann aushalten, dass die Welt nicht perfekt sein muss und ich und du auch nicht. Und ich lasse mich von Gottes Wort und den Worten der anderen verwandeln. Ja, bitte Gott, schenke mir, schenke uns so ein hörendes Herz. Amen


Sabine Kaiser-Reis, 06.08.2023

Literaturhinweise:
Hartmut Rosa
Demokratie braucht Religion
München 2022 (8. Auflage 2023)

Karolina Kuszyk
In den Häusern der anderen – Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen
Berlin 2022 (5. Auflage 2023)